Ich will Dich kaufen

In der Pasticceria Migliorini in Volterra sah ich einen Jungen, oder einen halben Jungen, denn mir blieben nur seine weisse, mit einem Schriftzug bedruckte Trainingshose und riesige weisse Basketballschuhe. Trug er eine wattierte schwarze Jacke? Nein, jetzt erinnere ich mich, eine schwarze felpa, die Kapuze über den Kopf gezogen, so dass nur ein Büschel borstiger Haare über seiner Stirne vorstand. Waren seine Haare schwarz oder grau oder grün oder gestreift, wie ein junges Wildschwein (in der Toskana leben mehr Wildschweine als Menschen). Hatte er ein Fuchs- oder ein Marder-, ein Maus- oder ein Katzengesicht? Er war kleiner und dünner als seine Schulkameraden, die mit ihm im Migliorini in der Pause was zu essen kauften (und dann ohne zu bezahlen abhauen wollten, doch den Migliorini Frauen entkamen die Lausbuben nicht). Ich wollte ihn mit dem Handy fotografieren, aber er drückte sich in einer Gruppe von fünf-sechs Jungen vor der Theke herum.

Was ging im Kopf dieses Jungen vor? Ich möchte neben ihm stehen, wenn er aus seinem fake Trussardi Portemonnaie den letzten Euro rauskramt, und zu ihm zu sagen:

"Lass es, ich bezahle für dich."

"Warum?"

"Weil du schön bist." (In Volterra darf man das noch sagen.)

"Sind Sie schwul?"

"Ja, stört es dich?"

"Warum sind alle Schwulen hinter mir her?"

"Weil du gut aussiehst."

"Ich bin zu klein und zu dünn."

"Mir gefällst du, wie du bist."

"Mir geht es auf die Nerven!"

"Hier ist meine Karte, wenn du mich mal besuchen willst."

"Warum sollte ich Sie besuchen? Ich bin nicht schwul."

Habe ich Visitenkarten mit meiner Adresse in Volterra? Würde er nach einigen Tagen vor meiner Tür stehen? Würde die Klingel, der in der Wirklichkeit ein übereifriger Elektriker den Faden abgeschnitten hat, funktionieren? oder hätte der Junge den Mut, mit dem Türklopfer aus dem vorletzten Jahrhundert zu klopfen?

Könnte ich zu ihm sagen, "ich will dich kaufen?"

Am nächsten Tag brachen – der carabiniere sagte Zigeuner – während ich im Meer schwamm, meinen orangen Fiat Panda auf und raubten alles… Telefon, ID, Führerschein, Kreditkarten, Geld, Portemonnaie, Kleider, Schuhe… mir blieben nur meine Badehose und die Schlüssel. Ärgerte es mich? Wenn es einem einmal im Leben geschieht, darf man sich beklagen? Geht es den Dieben besser als mir?

Nachher sass ich in einem Gebäude mit dicken Mauern im Büro der carabinieri in Volterra. War es die alte Wachtstube? Eine Glocke läutete und ein zweiter carabiniere brachte einen verweinten Jungen herein. An der weissen Hose mit dem groben Schriftzug erkannte ich ihn. Während ein carabiniere für mich, d.h. für meine Versicherung, einen anderthalbseitigen Rapport tippte, hörte ich zu, was dem Jungen geschehen war. Sie hatten ihn niedergeschlagen und ihm den Rucksack geklaut, iPhone, Portemonnaie, Geld, Schlüssel, Schulbücher… Wir kamen gleichzeitig aus dem Wachtposten raus.

"Tut mir leid, dass du ausgeraubt worden bist. Kann ich dir etwas helfen?"

"Sie haben mir mein iPhone geklaut." Er begann wieder zu weinen.

"Was hat es gekostet?"

"Achthundert Euro."

"Ich gebe dir das Geld morgen."

"Was muss ich dafür tun?"

"Nichts. Ich wohne Via delle Prigioni 12… wann hört morgen deine Schule auf?"

"Um zwölf."

"Komm nach der Schule zu mir; dann gebe ich dir das Geld."

"Sind Sie schwul?"

"Ja, warum?"

"Ich habe das auch schon gemacht, wenn Sie wollen…"

"Wohin gehst du jetzt?"

"Ich weiss es nicht. Ich habe kein Geld, keine Schlüssel und kein Telefon. Vielleicht kann ich zu einem Freund gehen, wenn er zuhause ist."

"Willst du zu mir kommen?"

"Geben Sie mir fünfzig Euro?"

"Ich bin auch ausgeraubt worden. Morgen kann ich dir Geld geben. Wie heisst du?"

"Enzo."

Wir gingen in mein Haus. Ich zeigte ihm das Gästezimmer. Er wollte bei mir schlafen. Im Haus fand ich weitere Kreditkarten. Wir holten an einem Bancomat Geld; ich gab ihm hundert Euro; dann gingen wir essen.

"Hatte er ein Fuchs- oder ein Marder-, ein Maus- oder ein Katzengesicht?" Ein Frettchengesicht.

"Waren seine Haare schwarz oder grau oder grün, gestreift wie ein junges Wildschwein?" Borstig dunkelgrau, als hätte er unbeholfen versucht, sie von grün zurück auf schwarz zu färben.

Im Restaurant ass er lasagne und erzählte, ohne dass ich ihn auszufragen brauchte: Er wohnt bei einer Tante in Pomarance, die ihn nicht mag. Die Mutter ist im Spital mit Krebs. Die Eltern sind geschieden. Sein Vater hat eine Freundin und keine Arbeit. Am Wochenende geht Enzo nach Florenz und macht es in einer schwulen Disco, oder er findet einen auf tinder.

"Was gefällt Ihnen?"

"Dafür bin ich zu alt. Ich könnte dein Grossvater sein. Ich habe dich im Migliorini gesehen."

"Im Migliorini, wann?"

"Letzte Woche; deine Freunde wollten nicht bezahlen.

Stimmt! [eine grafische Beschreibung seiner Freunde]

In meinem Haus duschte er. Ich gab ihm Trainerhosen und ein T-Shirt. Im Bett heulte er los: Was er mir schon im Restaurant erzählt hatte, nun aber mit einem roten Faden von Streit um Geld, das seine Tante von ihm verlangt, das seiner Mutter fehlt, das sein Vater ihm nicht gibt; Lehrer, Sozialarbeiter. Ein Junge, der sich einmal für Schulbücher verkauft, fünfmal für Nike Basketballschuhe, zwanzigmal für ein iPhone… und träumt, dass ihn jemand liebe, jemand für ihn sorge. Fehlte ihm nur Ruhe und Liebe? Im Schlaf schmiegte er sich an mich. Was wollte ich mehr?

Am Morgen ging er zu Schule. Ich holte auf der Bank Geld für sein iPhone.

Fünf nach zwölf stand er vor meinem Haus. Dass meine Klingel nicht funktioniert, wusste er schon. Ich gab ihm das Geld für das iPhone.

"Willst du, dass ich heute abend bei dir schlafe?"

"Du kannst immer hier schlafen, wenn du willst. Wann kommst du?"

"Kann ich gegen fünf kommen? Ich hole vorher das Telefon und eine neue SIM-Karte."

"Dann können wir zusammen essen gehen." (Ich kann nicht kochen.)

Er kam irgendwann nach fünf, legte sich auf das Bett im Gästezimmer und richtete sein neues iPhone ein. Ich verstand, dass er allein sein wollte, auch wenn er die Türe offenliess.

Fragte ich mich beim Essen, ob ich ihn lieben könnte? Er war hübsch und mein Typ: klein, dünn, welpig. Störte mich, dass er kein unbeschriebenes Blatt war, oder fand ich das überraschend praktisch? Er schien mir berechenbar und nervte mich nicht. Dass er mit anderen Worten bettelte, ihm eine Smile Clinic in Florenz zu bezahlen, weil ihm die zwei Schaufelzähne fehlten, überraschte mich nicht, auch wenn ich gern gesagt hätte, "aber wir haben doch nichts gemacht," oder "zahlst du es mir mit deinem Körper zurück?"

Nachts im Bett war er eine Mischung von schlauem Schakal und naiv-verlorenem Kind. Dass ich dafür, was alle wollten, zu alt war, verwirrte ihn. In seinem schmalen Borstenkopf sagte mal die Dankbarkeit, "möchtest du, dass ich manchmal etwas koche für dich, damit du nicht immer im Restaurant essen musst?", mal die Schlauheit, "in meiner Klasse haben alle einen Laptop ausser mir…"

Entgleitet mir mit zunehmendem Alter, was an Menschen gut und schlecht ist? Sind nicht alle Menschen mixed bags? Wenn Enzo ein iPhone und die Clinica del Sorriso reichten und er zufrieden war, mir Gesellschaft zu leisten, worüber sollte ich mir Gedanken machen?

Am Morgen fragte ich ihn, "willst du hier wohnen?"

"Ich habe kein Geld. Ich kann keine Miete bezahlen. Kann ich etwas arbeiten für Sie?"

"Kannst du einkaufen und Frühstück machen?"

"Mit Freuden!"

Einkaufen tat er willig; am liebsten, was man nicht zu kauen braucht. Frühstück und früher aufstehen, vergiss es! Er schlief noch mit verklebten Augen, wenn ich hellwach mich schon sorgte, dass er zu spät in die Schule komme. Zum Glück war seine Schule keine hundert Meter entfernt. Gern hätte er in den Kleidern geschlafen, in denen er zur Schule ging, um nur in seine nicht gebundenen Basketballschuhe zu schlüpfen, die Treppe hinunterzupoltern und als letzter ins Schulzimmer zu flitzen. Geputzte Zähne und klare Köpfe erwarteten seine Lehrerinnen um acht Uhr morgens offensichtlich nicht. Dass er mir aus der Schule WhatsApp Nachrichten mit vielen Herzchen schickte, hielt ich für direct mail. Vermisste er mich um acht Uhr fünfundvierzig?

Nichts liess vermuten, dass er seine Schularbeiten machen würde, doch die Spielregeln seiner Schule schienen Enzo so wenig verhandelbar wie Fussballregeln. Mit schmierigem Kugelschreiber und kringeliger Schrift schrieb er am Esstisch, was von ihm verlangt wurde. Auch wenn er aus Gewohnheit alle paar Minuten tinder kontrollierte, las er (mit einem italienischen Rapper in seinen iPods, bzw. seinen Ohren) Leopardi…

Qui sull'arida schiena
del formidabil monte
sterminator Vesevo,
la qual null'altro allegra arbor né fiore,
tuoi cespi solitari intorno spargi,
odorata ginestra
contenta dei deserti...[1]

Sah er, dass vor seinen Augen ein Bild des Vesuvausbruches von 1631 hing? In allem sowohl-als-auch, war Enzo von Bildung unberührt und von Italianità getränkt. Frech und gehorsam, widerborstig und lenkbar, fügte er sich in den Raum, den ich ihm liess. Fasste ich nach, schnappte er aggressiv zurück, "ich habe es dir schon mal gesagt, aber du hörst mir nie zu!", dass mir das Blut in den Kopf schoss; sagte ich, "kannst du noch das Geschirr abwaschen, bitte!" machte er es, ohne zu maulen. Mal wurde er zornig, mal ich, doch bis ich ihn (nach einer halben Stunde) fragte, "bist du noch wütend?" oder sagte, "das hat mich wütend gemacht", wusste er wieder, dass er von mir abhing, und ich, dass ich nicht mehr ohne ihn auskommen wollte.

Nach dem ersten Besuch in der Clinica del Sorriso dankte er mir. Dass er dabei weinte, war es Selbstmitleid? Noch niemand, sagte er, hätte so viel für ihn getan. Direct mail?

Zum siebzehnten Geburtstag kaufte ich ihm einen refurbished Lenovo Yoga Laptop. Ich fühlte mich übervernünftig, doch er folgte widerstandslos meiner Überlegung, es sei besser, Dinge zu haben, die man leicht ersetzen kann, wenn sie nicht mehr funktionieren oder gestohlen werden. Ich rechnete ihm hoch an, dass er mit meiner vernünftigen Grosszügigkeit zufrieden war.

"Brauchst du Taschengeld?"

"Ich brauche fast nichts; gibst du mir zwanzig Euros?"

"Und neue Schuhe?"

"Sehen meine Schuhe so schlimm aus?"

"Ich fahre morgen nach Florenz, willst du mitkommen?"

Schuhe kaufen mit ihm war harmloser als erwartet. Er wählte halb scheu, halb selbstbewusst weder die teuersten noch die billigsten und fragte mehrmals nach, ob sie okay seien für mich; seine ersten Jordans. Wir assen in einem vegetarischen Restaurant. Er wollte Teigwaren mit Tomatensauce. Abwechslung, Neugierde, kulinarische Abenteuerlust… nichts. Mal pizza, mal spaghetti, am liebsten lasagne, kein Gemüse, kein Salat. Wir tranken in der Buchhandlung Feltrinelli, ich Kaffee, er Coca-Cola. Bücher… nicht mal Mangas interessierten ihn… wo es doch TikTok gibt!

Fast hätte ich vergessen, dass er auf dem Weg zum Bahnhof Santa Maria Novella der Faszination eines Marihuanaladens erlag. Obwohl ich wusste, dass es zum Fenster hinausgeworfenes Geld war, brachte ich es nicht übers Herz, ihm die Freude zu verderben. Sein Gras roch wie Heu. Hätte ich vor fünfzig Jahren einem Brocken Roter Libanon widerstehen können, auch wenn der Ambitionskiller Haschisch das letzte ist, was ein Junge ohne Ambitionen braucht?

Auf dem Hin- und Rückweg spielte er auf seinem iPhone ein hirnloses game. Wenn er nicht spielte, schwatzte er auf mich ein, ihm eine weitere Tätowierung zu bezahlen. Ich sorgte mich, dass er den Körper, den ich besitzen wollte, entstellen würde. Versuchte ich zu verstehen, was ihm die Tätowierungen bedeuteten? Selbstverletzung? Selbstbestrafung? Wofür?

Im Bett spielte er, während ich einzuschlafen versuchte, weiter Free Fire oder schaute TikTok Videos. Als ich ihn mürrisch aufforderte, endlich zu schlafen, sagte er, "ich kann noch nicht schlafen…"

"Warum kannst du nicht schlafen? Es ist fast Mitternacht."

Er maulte, ich brummte, bis er sagte, "du möchtest… Wie es in mir drinnen aussieht, siehst du nicht!"

"Wie sieht es in dir drinnen aus?"

"Ich war noch nie glücklicher als hier bei dir, aber für dich bin ich nur einer unter vielen, der dir eine Zeitlang gefällt. Wenn ich dir verleide, wirfst du mich raus." Er begann zu weinen, "danke für die Schuhe!"

"Sie passen dir gut."

"Was willst du wirklich von mir?"

"Ich will dich kaufen."

"Ich verstehe nicht."

"Ich kann es nicht erklären. Ich möchte, dass du glücklich bist."

"Bist du glücklich? Kümmert dich, ob ich glücklich bin?"

Ich wiederholte, "ich möchte, dass du glücklich bist," obwohl ich wusste, dass kein Mensch einen anderen zum Glücklichsein zwingen kann, weil Glück und Liebe verdient sein will.

Ich nahm ihn in die Arme und tröstete ihn wie ein Kind. Kann ich ihm erklären, dass er in zwei-drei Jahren ein anderer sein wird und ich auch? Dass Zeit Menschen zusammenkittet oder auseinanderreisst ungeachtet von Versprechen, Schwüren und Verträgen?

Am Sonntag verirrten wir uns im Wald auf dem Heimweg von einem Spaziergang. Mehr als eine Stunde kletterten wir Holzwege hinauf und Wildschweinwechsel hinunter. Google Maps zeigte nur, dass wir am falschen Ort waren. Die Irrwege ermüdeten und nervten mich. Enzo blieb völlig cool und half mir über die schwierigsten Passagen weg. Dreimal mussten wir ein Flüsschen auf wackeligen Steinen überqueren. Dass er sich nicht beklagte, beeindruckte mich.

Auf der Rückfahrt fragte er mich, "was bedeutet Ich will dich kaufen?"

"Dass du mir gehörst. Aber ich habe Angst, dass du dich zwingst, etwas zu tun, was du nicht willst."

"Ich kann es versuchen…"

Auf WhatsApp schrieb er mir, "ich liebe dich." Ich antwortete, "ich vermisse dich." Wie ein junger Hund schien er abwechslungsweise Freiheit und Schutz zu suchen, mal an der Leine in alle Richtungen zu zerren, mal an mir hochzuspringen und um etwas zu betteln. War ich für ihn verantwortlich oder nur für seine Gesundheit, seine Zähne und dass er pünktlich zur Schule ging? Schien mir seine Zukunft belanglos, weil mir selbst wenig Zukunft bleibt?

 

 

 

 

[1] (La Ginestra, Canti, 34, Giacomo Leopardi)
Hier auf dem dürren Grat
Des schreckenvollen Berges
Vesuvio, des Verwüsters,
Wo sonst nicht Baum noch Blume fröhlich grünt,
Verbreitest du dein einsam wuchernd Laub,
Duftvolle Ginsterblume,
Genügsam in der Oede…